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Anmerkungen zum  Homo sentiens


Durch die Beschäftigung mit den Frühformen des Homo sapiens kam mir der Gedanke, dass sich unsere jet­zige Gat­tung des Menschen folgendermaßen entwickelt haben könnte:

Am Anfang gab es in den einzelnen Familienverbänden der Vorformen des Homo sapiens immer mal wieder Sonderlinge. Sie hatten eine seltsa­me Eigenschaft: an Wissen und Wissensaustausch interessiert zu sein.
Sie streiften weiter umher als die Anderen, beschäftigten sich mit Ideen. Bestimmt dachten sie auch darüber nach, wie ineffektiv ihre Gruppe jagte. Doch sie erlebten auch Ausgren­zung und Befremdung.

Aber irgendwann, bei ihren ausgedehnten Streifzügen, trafen sie auf genau solche Sonderlinge, wie sie selbst es waren. Schließlich bildeten sie ihre eigenen Familienverbände. Waren erfolgreicher in der Jagd. Waren be­weglicher. Hatten mehr Austausch von Informationen und schlossen sich zu immer größeren Verbänden zu­sammen.

Der Rest ist nachweisbare Geschichte: alle anderen Vorformen des Homo sapi­ens (von lateinsch "sapere" = wissen) starben aus. Der Homo sapiens, also der Wis­senssammler, bevölkerte in nie gekanntem Maße den ge­samten Erdball.

Nun machen wir einen großen Sprung in die Gegenwart:

Die Psychologie entdeckt seit ungefähr 120 Jahren die Wichtigkeit der seelischen Entwicklung des Kindes. Deren Auswirkun­gen auf das spätere Leben. Das Wort „Trauma“ als „Verwundung … `auf seelischer Er­schütterung beruhend´ “ taucht zum ersten mal zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf (Ety­mologisches Wörterbuch des Deutschen, Editi­on Kramer 2012, S. 1453).
Das Wort „Weichei“ taucht nicht viel früher, ab dem Jahr 1870, rasant zunehmend auf (Link).

Was will ich damit andeuten:

1. Die fühlende Fähigkeit des Menschen scheint mehr und mehr hervor zu treten. Gleichzeitig stößt das Effektivsein durch Wissensansammlung an seine Grenzen. Wir „effektieren“ die Erde inzwischen zu Grunde.

2. Neue soziale Techniken wie z.B. die gewaltfreie Kommunikation , neue politische Techniken wie das systemische Konsensieren oder Bürgerräte, aber vor allem auch emotionale Techniken wie z.B. das Focusing  breiten sich aus.

3. Die "Weicheier", fühlen sich bisher ebenfalls ausgegrenzt, als Sonderlinge. In ei­ner Welt des "Möglichst-effektiv-seins". Wo das "Funktionie­ren-können" als Hauptkriterium gilt, um einen Job zu bekommen.
Doch meiner Meinung entsteht hier zunehmend eine neue Gattung: der Homo sentiens (von lateinisch sen­tire = fühlen).


Die Zukunft der Menschheit wird meiner Meinung nach davon abhängen, zu erkennen,

- was es mit der Psyche von Kindern macht, wenn sie nicht gefühlt werden. Ihnen im Gegenteil ein­gebläut wird, gefälligst zu funktionieren.

- dass wir dadurch in Gesellschaften leben, welche auf diesem Mangel an Gefühlt­werden aufgebaut worden sind.

- wie weitreichend sich frühkindliche seelische Verletzungen auf unser Miteinander, auch zur Natur und den an­deren Lebensformen auf diesem Planeten auswirken.

- dass emotionale (Über-)Reaktionen nichts mit fühlen zu tun haben, sondern eine Folge einer solchen Kindheit sind. Sie sogar eine Abwehr tiefer gehender Gefühle aufzeigen.

- wie bedeutsam die eigene Enttraumatisierung und die Nicht-Traumatisierung der Kinder ist!

- dass die "Weicheier", die "Warmduscher"und die "Sensibelchens" die Vorhut sind.

- welche Gesellschaftsformen aus nicht traumatisierten bzw. ent-traumatisier­ten Menschen entste­hen könnten:

Wir können das bisher kaum erahnen. Überwiegend erleben wir uns und andere als funktionie­rende Überle­bens-Ichs. Solch ein Überlebens-Ich ist aber nur ein psychisches Notprogramm. Umso mehr, je unerwünsch­ter unser eigentliches Ich war.

Ohne dieses Notprogramm wären wir gelassener. Hätten wir mehr Vertrauen ins Leben. Gäbe es mehr Zu­sammenarbeit, mehr Phantasie, mehr Lösungen, mehr Freude, mehr Gefühl zu allem was uns umgibt, mehr Liebe zu unseren Kindern. Dafür weniger Ersatzbedürfnisse, weniger Anerkennungsnot, weniger Selbstzwei­fel, weniger Erkrankun­gen, weniger Depressionen, weniger Umweltzerstörung … .


Der Sprung zum Homo sentiens wird darin bestehen, sich zusammen zu finden!
Sich trauen weich zu sein. Miteinander das Hineinfühlen, oder gar das Focusing, zu entdecken. Sich zu entschleuni­gen. Das eigene, kindliche Ich zu finden. Sich mit anderen und der Natur zu verbinden. Wohlwollend zu sein. Dieser Art zu sein zu vertrauen.


Wenn Dich dieser Text anspricht: Das Atelier b22 ist ein Platz, um sich darüber auszutauschen.

Mehr Infos zum Focusing:

https://de.wikipedia.org/wiki/Focusing
Literatur: Ann Weiser Cornell: Focusing - Der Stimme des Körpers folgen. Anleitungen und Übungen zur Selbsterfahrung.



Titel: the awakening of homo sentiens (das Erwachen des homo sentiens); 140 x 100cm (55.1 x 39.4"); Februar 2024

siehe auch:
Das Zeitalter der Enttraumatisierung
 


Einführung in die Galerie b22 und Texte zu den Bildthemen

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